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Frontex-Pushbacks: Nur noch ein Gericht kann die Menschenrechte an Europas Grenzen retten

Frontex Schiff vor Malta

Frontex, die Grenzschutzagentur der EU, war an mindestens einem Pushback von Geflüchteten in der Ägäis aktiv beteiligt. Das ist seit November bekannt, doch die Aufklärung läuft schleppend. In Zukunft braucht es ein unabhängiges Gericht, vor dem Geflüchtete ihre Menschenrechte geltend machen können.

Kommentar Es waren die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, die 1950 zur Erschaffung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch den Europarat führten. Die 15 Grundfreiheiten des Vertrages enthalten Rechte, die in allen europäischen Staaten als unabdingbar gelten sollten: Das Verbot der Folter, das Recht auf ein faires Verfahren, die Meinungsfreiheit. Bis heute haben sich 47 Staaten zur Respektierung dieser Rechte verpflichtet – darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Nicht unter den Unterzeichner:innen ist allerdings die EU selbst.

Eigentlich hatten sich die EU-Staaten bereits 2007 im Vertrag von Lissabon, einem der Gründungsverträge der Europäischen Union, darauf geeinigt: Die EU soll der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten. Doch daraus wurde bis heute nichts. 2014 kippte der Europäische Gerichtshof als höchstes Gericht der EU eine fertig ausgehandelte Vereinbarung zum Beitritt der Union zur Konvention – danach kam lange nichts mehr. Bis Ende letzten Jahres, als die EU wieder Verhandlungen mit dem Europarat aufnahm.

Bis die Verhandlungen abgeschlossen sind, wird es wohl noch eine Weile dauern, prognostiziert Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. „Wir haben während des deutschen Vorsitzes im Ministerrat des Europarats erstmals seit Jahren wieder einen Vorstoß unternommen, um die Verhandlungen wieder ins Rollen zu bringen. Es ist aber noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.“ 

Immer in der Nähe: Frontex

Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, dass die EU sich aktiv zu den Rechten der EMRK bekennt, schließlich werden gerade diese Menschenrechte an ihren Außengrenzen in Frage gestellt: Seit April 2020 konnten Journalist:innen zahlreiche sogenannter Pushbacks dokumentieren, bei denen Beamte der griechischen Küstenwache, teilweise maskiert, Geflüchtete daran hinderten, mit ihrem Schlauchboot an der griechischen Küste anzukommen, etwa durch das Zerstören des Motors. 

Über Monate hinweg immer wieder in der Nähe: Die EU-Grenzschutzagentur Frontex. In mindestens einem Fall im Juni 2020 war die Agentur sogar direkt an einem Pushback beteiligt, als ein Frontex-Schiff ein Schlauchboot voller Geflüchteter blockierte und dann Wellen erzeugte, um das Schiff zurück in Richtung der türkischen Küste zu treiben. Das hatte im November ein Team aus Journalist:innen des Spiegels, Report Mainz und weiteren Medien öffentlich gemacht. Die traurige Bilanz der Pushbacks an Europas Außengrenzen: 2000 Todesfälle von Menschen auf der Flucht stehen mit Pushbacks im Zusammenhang, hat der Guardian dokumentiert.

„Verstoß gegen internationales Recht“

„Der Vorwurf gegen Frontex, dass die Agentur Pushbacks vorgenommen oder geduldet hat, wäre ein Verstoß gegen internationales Recht“, so Staatsminister Roth. Genauer gesagt: Gegen Artikel 4 des Protokolls Nr. 4 zur Menschenrechtskonvention. Dort steht: „Kollektivausweisungen ausländischer Personen sind nicht zulässig.“ Pushbacks sind ein Beispiel für eine solche Kollektivausweisung, da die Boote der Geflüchteten ohne Anhörung ihrer Asylgründe zurück in türkische Gewässer geschoben wurden.

Pushbacks verstoßen zudem gegen Art. 3 der EMRK, die besagt, dass niemand „unmenschlicher oder erniedrigender […] Behandlung“ ausgesetzt werden darf. Daraus leitet sich das Refoulement-Verbot ab: Europäische Staaten dürfen Flüchtlinge nur zurückweisen, wenn sie sicherstellen können, dass die Geflüchteten nach der Zurückschiebung keinen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind – unmöglich, wenn Herkunft und Fluchtgründe nicht in einem geregelten Asylverfahren ermittelt werden. 

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg überprüft, ob die Verbote eingehalten werden. Dreimal hat der EGMR seit 2012 bereits bestätigt, dass Pushbacks auf See gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen. Weitere Klagen, etwa gegen Griechenland, das Geflüchtete auf kleinen Rettungsinseln im Meer ausgesetzt haben soll, liegen ihm vor. Gegen Frontex hingegen kann der Gerichtshof nicht vorgehen, weil die EU keine Unterzeichnerin der Europäischen Menschenrechtskonvention ist – ein klares Kontrollproblem.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg

Frontex außer Kontrolle

Zwar gibt es auch innerhalb von Frontex Kontrollmechanismen. Zum einen wäre da das Frontex Management Board, das in einem internen Bericht keine Menschenrechtsverletzungen feststellen konnte, lediglich „Defizite bei dem Kontroll- und Berichterstattungssystem“ von Frontex. Erik Marquardt, der als Grünen-Abgeordneter im EU-Parlament Frontex derzeit untersucht, erklärt: „Das Management Board ist keine unabhängige Kontrollinstanz. Es gibt da sehr klar die Tendenz Frontex zu entlasten.“ Staatsminister Roth hingegen misst dem Kontrollgremium eine besondere Bedeutung bei, um Menschenrechtsverstöße aufzuklären. Geht es nach ihm, sollen dem Management Board Hunderte Frontex-Mitarbeiter:innen zur Seite stehen, die auf die Einhaltung humanitärer Mindeststandards achten.

Seit 2016 besteht zudem ein Grundrechte-Beschwerdeverfahren bei Frontex. Doch auch das steht in der Kritik: „Bisher liefen wohl alle Verfahren, die eine Grundrechtsverletzung von Personal aus den Mitgliedstaaten zum Gegenstand hatten, leer“, berichtet Sophie Dohmen, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der TU Dresden. „Den Anforderungen des effektiven unabhängigen Rechtsbehelfs, wie die EU-Grundrechtscharta erfordert, kann ein solches rein Frontex-internes Verfahren nicht genügen.“

Eine Verbesserung der Kontrolle ist erst in Sicht, wenn sich die EU der Gerichtsbarkeit des EGMR unterstellt, wo auch Geflüchtete als Privatpersonen auf die Einhaltung ihrer Menschenrechte klagen können. „Aktuell, solange die EU nicht der EMRK beigetreten ist, besteht kein effektiver Rechtsschutz in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen von Frontex. Wenn die EU der EMRK beitritt, sollte sich das grundlegend ändern“, so Dohmen.

Die EU hat ein Glaubwürdigkeitsproblem

Und dafür wird es höchste Zeit: Bis 2027 will Frontex seinen sogenannten „standing corps“ auf 10.000 Grenzschutzbeamt:innen erweitern. Diese sind als Beamt:innen der EU gegenüber nationalen Gerichten grundsätzlich immun. Gleichzeitig soll Frontex weitere Befugnisse erhalten, um die Rückkehroperationen der Mitgliedstaaten zu unterstützen. „Meiner Einschätzung nach ist gerade aufgrund der neuen Exekutivbefugnisse Frontex‘, die vermutlich auch weiter ausgebaut werden, kaum mehr zu rechtfertigen, dass die EU der EMRK nicht beigetreten ist (und sie sich dadurch der Gerichtsbarkeit des EGMR „entzieht“)“, sagt Dohmen.

Für die Europäische Union selbst würde das vor allem ein Problem lösen: Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben durch die Verstöße gegen die Menschenrechte von Geflüchteten eine Menge Glaubwürdigkeit verloren. Die unermüdlich vorgetragene Phrase, die EU sei ein Musterbeispiel für gelebte Menschenrechte, ist kaum in Einklang zu bringen mit dem völkerrechtswidrigen Zurückschieben von Geflüchteten aufs Meer, der tatkräftigen Unterstützung dessen durch eine EU-Agentur und die halbherzigen Aufklärungsversuche innerhalb der Frontex-Strukturen. Stellte sich die EU einer unabhängigen höchstrichterlichen Instanz, ließe sich wohl etwas Glaubwürdigkeit wiederherstellen. Wie lange sich der Beitritt der EU zur EMRK jetzt noch hinzieht, sagt deshalb auch etwas darüber aus, ob eine unabhängige gerichtliche Kontrolle von Frontex überhaupt gewollt ist.

Beitragsbilder: Ein Frontex-Schiff vor Malta. „FRONTEX“ flickr photo by Österreichisches Außenministerium https://flickr.com/photos/minoritenplatz8/33244525080 shared under a Creative Commons (BY) license

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Von Dennis Jansen – Selbst erstellt mit Casio QV-R51, CC BY-SA 3.0, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=1483533

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